
1. Warum die nordische Designmentalität die Geografie der Uhrmacherkunst neu schreibt
Die Elite der mechanischen Uhrmacherkunst war lange Zeit fest mit der Schweiz verbunden, doch in den letzten zwanzig Jahren haben finnische Marken diese Tradition aufgebrochen und neue Türen geöffnet: Namen wie Voutilainen, Sarpaneva und Laine stehen im Mittelpunkt einer neuen Geschichte. Die wichtigsten Märkte prognostizieren für 2024 einen weltweiten Anstieg der Verkäufe unabhängiger Uhren um 148 Prozent, was in Finnland fast einer Verdopplung entspricht (Independent Watchmaking Report 2025). Hier kommt Pietari Kupias ins Spiel, ein 39-jähriger Industriedesigner, der zuvor in Großbritannien, den USA und an der Aalto-Universität in Helsinki Wearable-Technologie entworfen hat. Er gründete seine gleichnamige Marke im Herbst 2022, nachdem er während der COVID-19-Pandemie beobachtet hatte, dass Fabriken ihre Preise neu festlegten, und er eine fünfachsige CNC-Fräsmaschine zu 60 % des Preises von 2019 erwerben konnte (2023 Machinery Index). Diese Maschine eröffnete ihm eine doppelte Persönlichkeit: die eines Bildhauers, wenn er seine eigene Katedraali schnitzt, und die eines Zulieferers für Scheulers, wenn er Brücken aus Neusilber planfräst. An einem einzigen Abend beim Helsinki Micro-Meetup kann man ihn dabei beobachten, wie er Design-Dateien mit Schülern austauscht, die gerade die Sekundarschule abgeschlossen haben, und mit Meistern, die zwei Generationen älter sind als er, Tipps zur Endbearbeitung austauscht – eine demografische Mischung, die von Kelloseppaatti, der finnischen Uhrmacherschule, die seit 1939 Uhrmacher ausbildet, orchestriert wurde. Die meisten der neuen Schüler des Jahrgangs 2024 haben bereits einen Abschluss (37 % sind sogar Akademiker), sodass der Campus eher einem Start-up-Dorf gleicht, in dem CAD-Chats und handgefeilte Abschrägungen an derselben Werkbank stattfinden. Das Ergebnis ist eine staatliche Kultur, in der algorithmische Genauigkeit ebenso geschätzt wird wie ausgelassenes Experimentieren und Armbanduhren nicht als Zeitmesser, sondern als winzige nordische Skulpturen betrachtet werden.

2. Die Gemeinschaftsfabrik: Die Rolle gemeinsamer Maschinen und offener Kritik bei der Beschleunigung von Innovationen
Kupias Atelier funktioniert wie ein Mikrocluster aus einem Tech-Inkubator-Handbuch. Er teilt sich die Miete und sogar einige Mitternachts-Espressi mit Roope Kortela (Gravur-Experte), Rene Valta (Hemmungsspezialist) und Juha Eskola (Zifferblatt-Handwerker). Wenn sich jeder Gründer einer wenig lukrativen Spezialität widmet, verkauft er diese Fähigkeit, um die Miete für die Ausrüstung zu bezahlen. Ein internes Hauptbuch vom Februar 2025 zeigt, dass 40 Prozent der Einnahmen von Kupias auf CNC-Aufträge zurückzuführen sind: eine Reihe von Brücken für Kortela Valta, einige Titangehäuse für zwei Start-up-Uhrmacher, eine Serie von zwanzig Dreiviertelbrücken für Uhrmacherschüler. Diese Interdisziplinarität senkt die Kosten um schätzungsweise 30 % und mehr und steigert die Qualität erheblich. Eine Muster-Spiralfeder kann in CAD optimiert und innerhalb von 48 Stunden vom Graveur am Handgelenk getestet werden, da dieser nur zwei Meter entfernt sitzt. Diese Hyper-Feedback-Schleifen haben bereits zu einem gemeinsamen Schaufenster geführt: Die Helsinki Independent Watch Fair 2024 verzeichnete 600 Besucher (doppelt so viele wie 2022) und ist ein klarer Beweis dafür, dass kollektives Handeln und nicht heimliche Aktivitäten die Wurzel der aktuellen finnischen Uhrmacherkunst sind. Während Schweizer Manufakturen nur murmeln können, verkünden die Finnen ihre Fertigungstoleranzen lautstark auf Instagram und glauben, dass Ehrlichkeit Sammler anzieht, die sich ebenso sehr für die Herstellung interessieren wie für den Glanz der Uhren.

3. Architektur zum Atmen: Die Gestaltung des Gehäuses und Zifferblatts der Katedraali
Ein Spaziergang unter den Strebepfeilern der Notre Dame im Jahr 2019 inspirierte Kupias zu der zentralen Designfrage: Wie lässt sich negativer Raum am Handgelenk darstellen? Seine Antwort ist die 42 mm große Katedraali, eine Ode an die Leichtigkeit der Gotik. Die Reflexionen gleiten dahin, da die Gehäuseflanken wie kleine Bögen geschwungen sind. Er betrachtet das Material als austauschbaren Bestandteil der Designformel – der Prototyp ist aus Edelstahl, aber bereits in Bronze, Titan, Sterlingsilber, Rotgold und sogar Platin vorgesehen, wobei jede Legierung kontrastierende Oberflächen aufweist (satinierte Vertiefungen gegenüber spiegelnden Körnungen). Das Zifferblatt ist eine Neuinterpretation eines Rosettenfensters aus Halbedelstein Lapislazuli, Malachit oder im eigenen Brennofen gebranntem Emaille. Die Wintersonne von Helsinki, von der der Doktorand berichtet, reflektiert sich in einem Stück grünem Aventurin, das Glimmerpartikel bricht und so wie Buntglas in der Morgendämmerung wirkt. Die Uhr am Handgelenk ihres Trägers erweist sich weniger als Objekt denn als Gegenstand der Diskussion; in bestimmten Blickwinkeln verschmilzt sie mit den stützenden Bandanstößen, und nur das frei schwebende Glas ist zwischen den polierten Schultern zu sehen. Diese „aufziehbare Architektur” ist der Beweis dafür, dass ein Gehäuse nicht nur ein neutraler Behälter sein muss – ein Gehäuse, das ebenso singen kann wie jedes Zifferblatt.

4. Technische Herzschläge: Modifizierter Unitas für limitierte Mikro-Serie
Dreht man die Katedraali um, sieht man einen stark überarbeiteten Unitas 6498, der unter den von Kupias gefertigten Brücken aus Neusilber, die jedoch mit Standardfeilen und Polierwerkzeugen fertiggestellt wurden, fast nicht mehr zu erkennen ist. Es gibt zwei Varianten: eine komplette Dreiviertelplatine mit breiten Genfer Wellen oder eine durchbrochene Baugruppe, die die Blütenblattstruktur des Zifferblatts wiederholt. Beide verfügen über schwarz polierte Schraubenköpfe, Innenwinkel mit haarglatten Polierglanz und eine patentierte Klickfeder, die das Aufziehen um 12 % erleichtert (Ateliermessung). Jedes Exemplar ist nummeriert und es werden nur 13 Stück hergestellt, deren Seltenheit durch Fakten und nicht durch einen Mythos begründet ist. Laut Auktionsdaten behielten Kleinserien von weniger als 30 Stück nach einem Jahr 94 % ihres ursprünglichen Wertes, verglichen mit 76 % bei unabhängigen Herstellern mit größeren Serien (2024 Watch Price Index). Kupias hat auch eine offene Integrationsliste veröffentlicht: 100 % der Gehäuse, Zifferblätter, Zeiger und Brücken werden im eigenen Haus gefertigt; die Spiralfedern werden noch ausgelagert, aber aktiv erforscht. Diese Vertikalität gefällt Sammlern, die die echte DNA des Herstellers sehen wollen, und gibt Kupias die künstlerische Freiheit, Legierungen und Steinzifferblätter zu kombinieren, sodass sich keine Uhr der Kollektion wie eine andere anfühlt.

5. Die Zukunft gestalten – kann uns Zusammenarbeit noch weiter bringen?
Der nächste technische Sprung steht bereits in den Startlöchern: eine freischwingende Unruh, die in Zusammenarbeit mit Kortela Valta entwickelt wurde und Ende 2025 auf den Markt kommen soll. Die Rohlinge aus einer Goldlegierung werden von Kupias mit einer Genauigkeit von plus/minus 0,2 mg bearbeitet; die Spiralfedern werden nicht nur von Hand gezogen und überwickelt, sondern auch von Kortela und Valta von Hand formuliert – eine Handwerkskunst, die derzeit nur drei Finnen beherrschen. Langfristig hoffen sie, in einem Jahrzehnt eine selbst entwickelte Hauptplatine zu haben, was zu Problemen führen wird, die typisch nordisch sind. Man stelle sich eine Mondphasenanzeige vor, die auf das 24-Stunden-Tageslicht des Sommers in Lappland eingestellt ist, oder eine Minutenrepetition, die auf die klangvollen Achtelnoten von Sibelius abgestimmt ist. Zumindest können Sammler in der Zwischenzeit den Fortschritt dieser Reise – sozusagen auf animierter Ebene – in den Videos verfolgen, in denen die Werkstatt von Kupias CAD-Splines in die filmische Welt der Angulation und Zeitlupe überträgt. Er liest und beantwortet E-Mails selbst, manchmal nachdem er um 23:15 Uhr noch an der Feinabstimmung der Schrauben gearbeitet hat, weil er der Meinung ist, dass der Dialog das Design schärft. In einem Klima, in dem Dinge über Nacht kopiert werden, weil Algorithmen dies tun, ist eine solche Mitternachtsnotiz eines finnischen Handwerkers, in der noch der Nachhall eines Feilenschlags in den Ohren klingt, vielleicht doch der ultimative Luxus.